Zwischen den größeren Bahnhöfen Reutlingen und Schelklingen bei Ulm liegt ein weniger bekannter, dafür aber um so reizvollerer Streckenabschnitt – „Die Honauer Steige“.
Von dem Bahnhof Honau bis zum Bahnhof Lichtenstein muß ein Höhenunterschied von rund 180 m überwunden werden und das bei einer Streckenlänge von nicht ganz 2000 m. Solche Steigungen sind mit einer normalen Reibungsbahn nicht mehr zu bewältigen. Aus diesem Grund wurde 1893 eine Zahnradbahn als notwendig angesehen und auch gebaut. Vom Einlauf bis zum Auslauf dieses eingleisigen Abschnitts ist die Entfernung rund 1800 m was einer gleichmäßigen Neigung von 1:10 entspricht. Mit 12 – 15 km/h schnaufte die Zahnradlok bergauf oder bergab, schlängelt sich durch Bögen mit 280 m Halbmesser ohne Überhöhung und Übergangsbögen – nur 40% der Strecke sind gerade – unmittelbar entlang an Jurafelsen, am Rötel-, Sonnen- und Locherstein sowie am vielleicht bekannteren Traifelberg vorbei, die alle die stattlichen Höhen von fast 800 m aufzuweisen haben. Auf der anderen Seite der Bahn, rechts der Kilometrierung, in einer Höhe von 820 m erhebt sich wie aus einem Märchen das bewohnte Schloß Lichtenstein, von dem man in einmalig schöner Aussicht die Bahnstrecke, die windungsreiche Bundesstraße 312, das Echazflüßchen, die vorgenannten Felssteine sieht, einen weiten Blick in die liebliche Landschaft werfen kann und man den Eindruck hat, eine gelungene große Modelleisenbahn zu betrachten.
Die Übersteigung der Schwäbischen Alb in diesem besonders schönen Abschnitt brachte aber bei diesen Verhältnissen nicht nur während des Neubaues der Bahn, sondern vornehmlich bei der Unterhaltung des Bahnkörpers, der Hang- und Felssicherung, sowie der Stützmauer entlang der Bundesstraße 312 nach der zweiten Kehre erhöhte und nicht allgemein übliche Mehrarbeit ein. So ist u.a. verfügt, daß der Bm-Vorsteher einmal im Jahr nach dem Frost unter Beteiligung eines Landesgeologen, und alle 5 Jahre mit Begleitung der Straßenbauverwaltung die Felsen abzugehen hat. Diese Begehungen sind keineswegs Spaziergänge, sondern Kletterpartien mit teilweise alpinen Seilsicherungen. Beim ersten Viertel der Strecke von Honau her ist außerdem ein Spaltfelsen sehr genau zu überwachen. Zementbänder und einbetonierte Bolzen können eventuell weitere Spreizung rasch erkennen lassen. Eine Betonplatte soll das Oberflächenwasser zwischen dem Spaltfelsen ableiten, um ein Eindringen zu verhindern. Felsräumung von abgesprengtem Gestein, Wiederherstellung oder nur Ausbesserung der Steilhangsicherung in Faschinenbauweise sind leicht gesagt, aber schwierig, anstrengend, kostspielig und nebenbei erhöht gefährlich auszuführen.
In den dreißiger Jahren wurde das Gleis auf der Steige letztmals umgebaut. Schienen, 18 m lang, der württembergischen Form D mit einem Gewicht von rund 33 kp/m, Stahlschwellen der Form V mit einem Gewicht von rund 72 kp mit Spurplättchen und in Gleismitte der auf der Schwelle angenietete Stuhl für die Auflagerung der je 4,50 m langen Zahnstangen wurden damals verlegt. Alle 50 m wurden Schienenstücke in das Erdreich einbetoniert, davor bergwärts eine Schiene verschraubt, die sich gegen eine Schwelle stemmte, um dem Hangabtrieb des Gleises entgegenzuwirken. Da diese eine Schwelle mit Befestigung des Länderoberbaus allein nicht genug Wiederstand entgegensetzen konnte, wurden einige Schwellen an diesen 50-Meter-Spornen auf der Oberseite der Schwellen mittels altbrauchbarer Schienen verschraubt, so daß eine Art Druckrahmen entstand, der – solange die Schienen und Schwellen kraftschlüssig verspannt waren – seinen Zweck nicht verfehlt hat.
1961 war es wieder soweit, daß der Oberbau abgängig war. Die Schienen waren abgefahren, die Stahlschwellen teilweise angebrochen, wobei der Höhenabstand zwischen Schienenoberkante und Zahnstangenoberkante zu unterschiedlich wurde. Man entschloß sich zum Umbau, weil bei den Zahnradgleisen der Höhenunterschied zwischen Schienenoberkante und Oberkante Zahn der Zahnstange genau eingehalten werden muß. Einige Tage vor der Sperrung wurden die vorbereitenden Arbeiten ausgeführt, riesige Mengen Buchenlaub vom Bahnkörper aufgesammelt und in Körben zu Tal befördert, Schotter auf Vorrat gelagert, Schienen und Schwellen abgeladen, wohl überlegend, daß bei den beängstigend knappen Platzverhältnissen noch Raum für den abzubauenden alten Oberbau bleiben mußte. Auf der Hälfte der Strecke, dort wo die Bundesstraße 312 bei der 180°-Kehre fast auf gleicher Höhe wie das Gleis liegt, mußte dieses auf eine Länge von 100 m bis zu 1,00 m bergseitig verschwenkt werden, weil Langholzfuhrwerke von Lichtenstein kommend in das Lichtraumprofil der Bahn hineinragten. Cirka 120 lfdm Rohre Ø 50 cm und Ø 30 cm mußten verlegt, Schächte versetzt und Sickerkies eingebracht werden.
Vom 5. April 1961, 7.00 Uhr bis zum 10. Mai 1961, 17.00 Uhr war das Gleis gesperrt, die Fahrgäste wurden mit Omnibussen befördert. Ein Hinweis in Zeitungen und Aushängen mit der Bitte um Verständnis für die Umbauarbeiten informierte die Reisenden. Es begann ein Gleisumbau mit 45 Mann, einschließlich Aufsichtspersonal, wie er nicht oft vorkommen dürfte.
Kahl, naß und unfreundlich war auf der Reutlinger Alb die Natur beim „Ersten Spatenstich“, aber zusehens drängte der Frühling und es stellte sich beim letzten Handanlegen sommerliche Witterung nach kräftigem Blühen und Grünen ein. Genau 30 Arbeitstage ohne Arbeitszüge, Signalhorn oder gar Typhon und die Unmöglichkeit, mit Großgeräten außer Polytrac und Planierraupe zu arbeiten, waren Erholung für Ohren und Nerven.
Die erste Überraschung – es sollten sich bei diesem Spezialumbau noch einige einstellen – war der Abbruch des alten Gleises. Pro Schritt 7 cm Höhenunterschied machten es z.B. unmöglich, daß ein Mann eine Ein- und Ausdrehmaschine allein bergwärts bewegen konnte. Ein weiterer Mann mußte ziehend mit einem Seil um die Schulter vorangehen. Außerdem mußte bergwärts umgebaut werden, damit der Zahnstangenstuhl beim Erwärmen der Zahnstange sich von der Schwelle wegbewegen konnte. Waren vorher Schiene und Zahnstange verlascht und der Stuhl auf der Schwelle angenietet, so sollten nunmehr Schiene und Zahnstange je für sich endlos verschweißt und nur der Stuhl in der Mitte der Schwelle verschraubt werden. Unwahrscheinlich eingerostet und durch den Druck talwärts in sich verbogen waren Zahnstangen- und Laschenschrauben. Während bei den letztgenannten einfache Brennschnitte helfen konnten, durften die Zahnstangen wegen der Wiederverwendung nicht beschädigt werden. Die 26 Schraubmuttern jedes 4,5 m langen Zahnstangenstückes mußten mit einem 2 m langen Ringschlüssel angerissen werden, bevor ein Winkelschraubenpflug mit besonderem gebogenem Laufwagen überhaupt erst mit dem Abdrehen beginnen konnte. Nicht jeder Mann war in der Lage, die abgedrehten Schrauben herauszuschlagen, denn das war eine unwahrscheinlich harte Arbeit. Die 18 m langen Schienen wurden auf 9 m Länge abgebrannt, Schienen und Schwellen mit Stuhl zum späteren Verladen seitwärts gelagert und die Zahnstangen auf Klötze gesetzt, um sie nach Höhe und Seite zu richten, sowie zum Wiederbefestigen loser Zähne. Mit Polytrac und Planierraupe wurde nunmehr das neue Planum hergestellt, das Visier im Durchschnitt um 10 cm angehoben, so daß verhältnismäßig wenig Bettungsrückstände anfielen. Auf dem Schotterbett wurden die Stahlschwellen Sw 7 ausgelegt, die neuen 22,50 m langen Schienen S 49 lose verschraubt aufgesetzt, die montierten Zahnstangenmit dem Stuhl auf die Schwellen gesetzt und die Schwellen an den Stuhl gerückt.
Die gerichteten Zahnstangen wurden mit den Zähnen auf die aufgesetzten Schienen gelegt, die 6 Stühle pro Zahnstangenstück eingesetzt, die in der Zentralschmiede angebrannten, auf gleiche Länge angeschliffenen Druckrollen dazwischengesetzt und mittels Laschenschrauben und Federringen verschraubt.
Zum Schienenbewegen in Längs- und Querrichtung mußten Umsetzgeräte verwendet werden, die statt der Rollenbacken an der Laufkatze Krallen, ähnlich wie bei den Schienenzangen, hatten. Im Séchéronschweiß-verfahren wurden die 4,50 m langen Zahnstangenstücke ohne Rücksicht auf die Temperatur verschweißt, wobei das Kühlwasser für die Kupferplatten der Schweißer aus der Echaz oft bis zu 50 m mit Seilen heraufgezogen werden mußte. Bei 25°C wurden danach die Schienen thermitgeschweißt und die Schwellen mit dem vorher seitwärts gelagerten Schotter eingedeckt. Die vorhandenen, alle 50 m stehenden Sporne aus den Schienenstücken wurden bis zur Schwellenoberkante abgebrannt, die vorher ausgebauten Schienenstücke wieder quer davor gelegt und durch Schotter – so gut es ging – mit der bergseitigen Nachbarschwelle verkeilt.
Viel Arbeit verursachte das Verschlagen der Schwellen bergwärts, bis das Gleis ebenso wie die Zahnstange durchgehend verschweißt war. Immer wenn nachts die zuerst verschweißte Zahnstange ihre Länge verringerte, drückte sie die Stahlschwellen talwärts, die dann in ihrer Lage verblieben, wenn sich bei ansteigender Temperatur die Zahnstange wieder dehnte.
Der erste Stopfgang wurde mit Schwingstopfern Losenhausen durchgeführt, der zweite Stopfgang mit Schlagstopfern der Fa. Bosch, das Gleis im Wandersehnenverfahren unter Zuhilfenahme von Gleiswinden wegen der Starrheit der Zahnstange ausgerichtet, die Wanderschutzmittel an Anfang und Ende der Strecke, mit Wackerstampfern zwischen den Schwellen die Bettung verdichtet, mit verschieden starken Holzzwischen-lagen die geforderten 85 mm von Schienenoberkante zur Zahnstangenoberkante hergestellt und schließlich das Gleis endgültig verfüllt und feinplaniert.
Wichtig für der reibungslosen Verlauf des Zahnstangenbetriebs ist das bewegliche Einfahrstück am Anfang und am Ende der Strecke, um den an den Fahrzeugen angebrachten Zahnrädern die Möglichkeit zu verschaffen, sich auf die konstante Zahneinstellung der Zahnstange in Seite und Höhe einzuspielen. Aus diesem Grund ist das erste Stück der Leiterzahnstange am Anfang auf einer senkrecht stehenden Pufferfeder gelagert, statt der festen Zähne hat sie bewegliche Rollen und ist lediglich mit einem Bolzen an die anschließende, durchgehend geschweißte Zahnstange geschraubt.
Zum Befahren der Zahnradstrecke mit Arbeitszugfahrten durften nur Rms 31- und Rmms 33 Wagen mit GmP-Bremsen verwendet werden; jeder Talbotwagen, der die Steige befahren sollte, mußte vom AW bremsmäßig umgebaut werden; jeweils nur ein Wagen durfte von einer Zahnradlok geschoben die Strecke befahren und mußte vor jeder Fahrt zusätzlich von einem Wagenmeister geprüft werden. Besondere Gleisüberhöhungs-messer und abgeköpfte Ausleger an den Schraubpflügen waren nötig; Materialnachschub für Kleineisen, Druckrollen und Stühle für die Zahnstangen war nur mit dem geländegängigen Unimog möglich. Rollwagen und Einschienenwagen waren für den Einsatz selbstverständlich verboten, aber die Unmenge von benötigten Sauerstoff- und Azetylenflaschen ließen sich bei einiger Vorsicht auf den Zahnstangen prächtig und ohne Mühe zu Tale fördern.
Nach nunmehr über einem Jahr Liegedauer kann gesagt werden, daß sich das Verscheißen der Zahnstange, was anfangs bedenklich erschien, als günstig erwiesen hat. Die alte Zahnstange zeigte im vergangenen Jahr ca. 50 Seitenrisse, die nunmehr verschweißt wurden, so daß diese Zahnstange weiterhin verwendet werden kann.
Der Stuhl der Zahnstange, der jetzt mit der Schwelle durch Hakenschrauben verbunden ist und seitlichen Halt durch Rippen hat, ermöglicht eine Einzelauswechselung eventuell gebrochener Schwellen.
Die alten Zahnraddampflokomotiven haben ausgedient. Schienenbusse mit Zahnradantrieb befahren jetzt die Steige und zwar besteht eine Einheit aus einem Steuerwagen (VS) und einem Triebwagen (VT). Mehrere Einheiten können nach Bedarf zusammengestellt werden.
Helmut Braun, Stuttgart, Deutsche Bundesbahn – Gleisbauzug 2902 © 1962
Abschrift 2022 in alter Rechtschreibung – K.B. –